imaginary lovers 2004 - 2007


Brele Scholz setzt keine Farben ein, um den Ausdruck der Skulpturen zu steigern. Aber sie nutzt alle farblichen Akzente, die das Holz selbst enthält, die Flecken von Ästen im Bauminneren, Einschließungen von Fremdkörpern, dunkle Äderungen, „Demarkationslinien“, die durch Weißfäule entstanden sind, Verfärbungen der Baumkerne durch Verletzungen, Marmorierungen. Das maskenhaft unheimliche „Bacon`sche“ Gesicht des „Tänzers“ auf einem Bein ist nur solchen Verfärbungen des Holzes geschuldet.

 

Aus: Von der Schwerkraft des Menschen und der Mühe sie zu überwinden - Zu den Holzskulpturen von Brele Scholz

Professor Dr. Wolfgang Becker, der ehemalige Leiter des Ludwig Forums, Aachen, November 2008




Von der Schwerkraft des Menschen und der Mühe, sie zu überwinden

Zu den Holzskulpturen von Brele Scholz

Professor Dr. Wolfgang Becker, 2008

 

Vor dem verwitterten Lagerhaus auf dem Napoleonsberg, in dem sie wohnt und arbeitet, lagern große Stämme von hartem Holz: gemaserte Esche, gelblicher Ahorn, Buche, olivgrüne Robinie, weißliche Hainbuche, rötliche Kirsche und Eiche – kein weiches Holz wie Linde oder Pappel.

 

(Barlach arbeitete mit Eichenholz, aber auch der junge Picasso, Kirchner benutzte Ahorn, Heckel Erle und Linde, in Lindenholz setzte auch Baselitz seine Kettensäge an.)

 

Sie hat sich vor einigen Jahren für diese Kunstpraxis entschieden, die körperliche Kraft, altertümliches Werkzeug, Raum und Sinnlichkeit fordert: Zärtlichkeit ebenso wie Aggressivität, Tyrannei und Unterwerfung.

 

Brele Scholz ist mit Handwerken vertraut; bis 1994 hat sie in Frankreich und Deutschland als Natursteinmaurerin gearbeitet; aber vor der Produktion im Bildhaueratelier stehen mehrere Werkgruppen von Grafik und Fotografie, die ebenso biografisch wie politisch motiviert sind: von den Skulpturen her gesehen erscheinen sie wie Skizzen, Scribbles, Studien, Entwürfe vor dem mutigen Entschluss, einen Baumstamm als Anlass für ein Kunstwerk zu nehmen – Balladen vor dem Drama, Ouvertüren vor der Oper.

 

War dieser Entschluss politisch? Eine Rückwendung aus der modernen, städtischen Welt in die Einsamkeit eines alten Gemäuers auf dem Land? Von der Plastik zum Holz? Von den Straßenlaternen zu den Bäumen? Von den Moden der „Kunstszene“ zu einer naturverbundenen Kunstpraxis?

 

Brüche in der Zeit, Revolutionen in der Geschichte bringen Wechsel der Medien hervor, in denen sich Menschen ausdrücken: die Zeitgenossen der Renaissance im 15. Jh. erfanden nicht nur den Buchdruck, sondern wechselten in den Skulpturen, die sie schufen, vom Holz zum Marmor und zur Bronze, seit ihnen Ausgräber die Vorbilder der griechischen und römischen Antike vor Augen stellten.

 

Und umgekehrt: um 1900, als sich in der fortschreitenden Industrialisierung moderne Drucktechniken, Fotografie und Film entwickelten, wagten einige Künstler wieder, Bilder aus Bäumen zu hauen und zu schnitzen, weil ihnen ganze Schiffsladungen von hölzernen Skulpturen aus den afrikanischen und pazifischen Kolonien in Weltausstellungen begegneten.

 

Diese Reaktion auf technologische Fortschritte, auf eine urbane Moderne wiederholte sich in den siebziger Jahren des 20. Jh. in veränderter Form, als Maler nicht mehr Siebdrucke herstellten wie Warhol oder Fotos übertrugen wie Estes, sondern spontan Farben auf Leinwände setzten und mit der Kettensäge Baumstämme bearbeiteten.

 

Die Neugier, die die Älteren bewegte, mit Latex, Polyester, Acryl und anderen Kunststoffen zu experimentieren, wich einem zunehmenden Naturbewusstsein, das ebenso die Farbpigmente einschließt, die die Maler in Bindern mischen, wie die Hölzer der Bäume, die die Bildhauer wählen.

 

Brele Scholz ist nicht allein. Sie ist in Deutschland von Holzskulpturen umgeben, die Maler wie Georg Baselitz, A. R. Penck, Jörg Immendorff und Bildhauer wie Stefan Balkenhol, Karl Manfred Rennertz und andere geschaffen haben. Aber keine ihrer Arbeiten deutet auch nur an, dass sie sich an diesen Männern zu messen sucht. Überspitzt: wenn ihr solche Skulpturen begegnen, schaut sie nicht hin. Sie hat andere Gründe, Bilder aus Baumstämmen zu hauen.

 

Etwa diese: unter ihren Fotoarbeiten fällt eine große Gruppe auf: um sie herzustellen, hat die Künstlerin Aktmodelle gebeten, im Stechschritt zu marschieren und den Kopf so schnell zu bewegen, dass ihr Gesicht unkenntlich wird. Die Bilder geben die Schritte schemenhaft wieder, nur das Standbein, der Fuß, der die Bewegung stützt, materialisiert sich. Die Fotos sind Bildhauerskizzen; sie formulieren die dringende Frage: wie überwindet ein gewichtiger Körper die Gravitation? Wie klein kann der Fuß sein, auf dem er steht? Wie kann eine Skulptur springen?

 

Diese Fragestellung tritt bei Baselitz und den anderen nicht auf; ihre Figuren stehen nicht nur fest, sondern bleiben zumeist in den Bäumen gefangen, aus denen sie geformt sind; die Stämme sind die Sockel, aus denen sie sich erheben; und mit den Bäumen sind sie der Erde verbunden.

 

Da Brele Scholz der Gravitation entgegenwirken möchte, befreit sie ihre Gestalten aus dieser Bindung. Sie sind sockellos, erheben sich auf ihren Füßen und Händen, strecken ihre Glieder und suchen nach Haltungen des Gleichgewichts und des Schwebens, den Bäumen unvertraut sind.

 

Betrachten wir diese Befreiung als eine Entwicklung, die uns in der Gruppe der Skulpturen von den „baumstämmigen“ zu den „schwebenden“ führt. Die ersten gehören einer Serie an, die Brele Scholz „imaginary lovers“ nennt, statuarische Männerfiguren, in deren Haltungen ein Echo berühmter Skulpturen der Kunstgeschichte zu hören ist.

 

Der schlanke imaginary lover 8, der die Arme erhebt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt, steht im Kontrapost wie der Jüngling „L´Age d` airain“ von Rodin oder der Sklave von Michelangelo und ist doch zugleich der Fund, der in einem Robinienstamm verborgen war. Nicht anders verraten der vorgestellte Liebhaber 4, der den Kopf in die Hände senkt, der Liegende (2) und der auf dem Boden Sitzende (9) die Auseinandersetzung mit Bronzen und Marmorstatuen (die Liegende im Florentiner Medici-Grabmal) so, als ob bestimmte Haltungen, Stellungen, Positionen des menschlichen Körpers nicht vom Leben, sondern von der Kunst sanktioniert worden sind.

 

Der 12. Liebhaber ist ein Liliputaner, 116 cm hoch, ein schwerer Körper mit großem Kopf und ausladenden Händen und Füßen. Im Museum von Bardo bei Tunis gibt es die römische Bronze eines tanzenden Pygmäen, der Kleinwüchsige ist in der Kunstgeschichte nicht selten der lachende Hofnarr. Aber Brele Scholz gibt ihm eine demonstrative Würde, mit der er die Aufmerksamkeit des Betrachters auf seinen rechten Arm lenkt. Er ist weit wie durch eine große Schnittwunde geöffnet und gibt den Blick auf eine Narbe des Ahorns wieder, eine Krankheit, eine Verknorpelung des Holzes in einer ehemaligen Astöffnung, die die Figur übernommen hat.

 

Brele Scholz hat 1999 zehn ihrer Holzskulpturen mit sechzig auf Kaffeesäcken gemalten Bildern in Aachen ausgestellt. In den schwergliedrigen, stampfend tanzenden Figuren der Bilder widerspiegeln sich die kraftvollen, ernsten Personen, die die Skulpturen wiedergeben. Ich möchte dieses rustikale Pathos, diese denkwürdige Suche nach einem Menschenbild, das sich jenseits der nervösen Peripetien der Moderne stoisch fortbewegt (seit Gauguin und der Modersohn-Becker), mit dem eines Zeitgenossen, des Schweizer Bildhauers Joseph Felix Müller (geboren 1955) vergleichen, der wie Brele Scholz seine Figuren aus der Bindung der Pappeln, die er bearbeitet, befreit und sie in Bewegungen setzt. Die Künstlerin nähert sich ihm dann am meisten, wenn sie, wie in der Skulptur der imaginary iover 10/11, eine Gruppe von mehreren Figuren aus einem Baumstamm herausschält. Bei Müller sind es 1985 drei Männer, die, Kopf an Rumpf, in einer Reihe vorwärts kriechen. Bei ihr sind es zwei, und sie suchen nicht wie die „Kriechenden“ die Nähe zur Erde, sondern stützen sich auf sie, heben sich von ihr, sind in einer Stellung fixiert, die sie nicht lange halten können. Im Gegensatz zu Müller hat Brele Scholz aus dem Stamm eine filigrane Gestalt geschaffen, die nicht denkmalhaft eine Pose fixiert, sondern die Bewegungen von zwei Menschen und den Lauf der Gefühle, der sie bedingt, fast spontan festhält.

 

Der Lover 7 hängt. Der Stamm der Hainbuche hat erlaubt, eine überaus flache Figur herzustellen, die alles tut, um möglichst wenig Raum zu beanspruchen: sie dreht den Kopf zur Seite, hebt den rechten Arm hoch über ihn, streckt den linken an der Hüfte herab und drückt die Füße nach unten. Die Figur kann weder stehen noch liegen, sie muss hängen – horizontal ausbalanciert an einem Seil um die Körpermitte. Nein, sie ist kein Engel wie die bekannte schwebende Skulptur von Barlach, sie ist ein angestrengter Schwimmer im leeren Raum.

 

Dagegen sitzt der stämmige Liebhaber 1 auf einem drehbaren Hocker wie das männliche Modell von Bacon in einigen seiner Gemälde. Bacon-Reproduktionen hängen im Atelier neben den Fotostudien der Marschierenden. Auch sie erscheinen hier wie Vorzeichnungen, deren Verwischungen Zeit bedeuten. Aber der materielle Impakt der mächtigen Männerfigur mit den charakteristischen Mandelaugen im sanften Gesichtsausdruck (das Vorbild war ein Zeitungsfoto des Filmschauspielers Ben Kingsley, der als Mahatma Gandhi bekannt wurde) ist erstaunlicherweise intimer als die Wirkung eines Bacon-Gemäldes im Raum, und wie das Ahornholz beim Pygmäen so drückt auch hier die Eiche ihre Unregelmäßigkeiten und Verletzungen so in den Vordergrund, dass Wärme und Vertraulichkeit entstehen.

 

Eine Fußspitze berührt den Boden, das ganze Gewicht der Skulptur lagert auf den drei Stahlbeinen des Hockers. Ein Fuß des 6. Liebhabers ist fest niedergesetzt, die Zehen des anderen und die Fingerspitzen sichern den Stand ab: der Läufer wartet gespannt, den Rücken hochgewölbt, auf den Startschuss. Wir nähern uns dem Ende jener Entwicklung, die von den „baumstämmigen“ zu den „schwebenden“ Figuren führt.

 

Die Eichenfigur des „Flüchtlings“ von Barlach 1920 im Kunsthaus Zürich zeigt einen vorwärts Stürmenden in einer wallenden Toga. Das Standbein lässt das Spielbein weit zurück, aber die Füße sind nicht frei, sondern Teil eines Holzblocks, der vom Kopf bis in den Sockel reicht. Betrachte ich dagegen unter den Figuren der Brele Scholz jene (Bewegungsstudie 2), die sich losgelöst vom Boden vorwärts zu tasten scheint, die wiederum auf nichts weiter als dem Standbein, den Fußzehen des Spielbeins und der Spitze des großen Fingers ihrer linken Hand steht, so führt mich das Bild auf eine Bühne, die von Tänzern bevölkert ist, denen nichts so wichtig ist wie die Schwerkraft zu überwinden. Da ist die (Bewegungsstudie 1), die sich auf dieser Hand um sich selber dreht, und dann der 3. Liebhaber, der auf seinem linken Bein alleinsteht, das rechte in die Waagerechte und den linken Arm hoch in die Senkrechte streckt.

 

Auf einem Bein, ja auf der Spitze eines Fußes stehen: dieser virtuose Akt hat in der Skulpturgeschichte wie in der des Balletts einen bewunderten Stellenwert, seit Giovanni da Bologna seine Bronze eines schwebenden Merkur auf einen stählernen Dorn stellte. Rik Wouters ließ seine „Törichte Jungfrau“ 1912 jubelnd auf den Zehen des linken Fußes tanzen, und Robert Longo zeigt in seinem Tableau des zerstörten Beiruts 1982/83 die Polyesterfigur des von einem Todesschuss getroffenen Fallenden, der einen Augenblick noch auf seinem Standbein steht.

 

Aber wie dick muss ein Baumstamm sein, der erlaubt, eine lebensgroße Figur mit rechtwinklig ausgestrecktem Bein zu formen? Oder konnte sie einen Ast benutzen? (Sie konnte.)

 

Für den vorgestellten Liebhaber 5 hat Brele Scholz Kirschwurzelholz verwendet. Diese Figur hat durchaus keine Standfläche; ob sie liegt oder hängt, sie bleibt eine knorrige, verzweigte Baumwurzel mit menschlichen Zügen; nein, kein Fundstück, keine Alraune, aber ein sonderbarer Hybride von natürlichem Wachstum und künstlerischem Eingriff, ein Misserfolg, eine „traurige Gestalt“, eine Karikatur, ein Leidender.

 

Brele Scholz setzt keine Farben ein, um den Ausdruck der Skulpturen zu steigern. Aber sie nutzt alle farblichen Akzente, die das Holz selbst enthält, die Flecken von Ästen im Bauminneren, Einschließungen von Fremdkörpern, dunkle Äderungen, „Demarkationslinien“, die durch Weißfäule entstanden sind, Verfärbungen der Baumkerne durch Verletzungen, Marmorierungen. Das maskenhaft unheimliche „Bacon`sche“ Gesicht des „Tänzers“ auf einem Bein ist nur solchen Verfärbungen des Holzes geschuldet.

 

Aber einmal hat sie einen deutlichen Farbakzent und einen Fremdkörper geschaffen, der ihn trägt: eine quadratische, rot gefärbte Maske aus Robinienholz, die das Gesicht einer Frau wie ein Schild verdeckt. Diese Frauenfigur aus Hainbuchenholz hängt an zusammen gebundenen Händen und Füßen so, dass sie dem Betrachter unter ihr den Kopf und den Oberkörper mit ausladenden Brüsten zuwendet. Sie scheint graziös zu schwingen wie eine Zirkusakrobatin, und in dieser Grazie ihrer Haltung enthält sie die Suggestion, sich jederzeit aus ihrer Fessel befreien zu können. Sie ist keine „traurige Gestalt“ wie der „Tänzer“ auf einem Bein oder der Hybride, der aus der Wurzel des Kirschbaums entstanden ist, wenngleich sie wie jene einem „Theater der Grausamkeit“ angehört.

 

Ich möchte den von Artaud geprägten Begriff verwenden, um mir eine Ausstellung der Skulpturen der Brele Scholz als eine Inszenierung auf einer Bühne vorzustellen, die keines Textes, keiner Handlung bedarf. Die Akteure tragen keine Attribute einer zeitgenössischen Zivilisation, sie sind in ihrer Nacktheit deutlich als Bewohner einer „Wildnis“ gekennzeichnet. Dennoch sind sie Menschen, die sich von ihrer Haftung an die Erde, von ihrer Umklammerung durch die Bäume befreit haben. Sie bewegen sich, sie liegen, stehen, sitzen (der Schemel ist freilich ein Zugeständnis an die Zivilisation), laufen, tanzen, hängen… Nur eine der Figuren repräsentiert etwas anderes als sich selbst, die Maskierte nimmt eine Rolle ein, ausgestoßen, schwebend, herrschend?

 

Die Lösung vom Boden und aus den Baumstämmen nimmt den Figuren der Brele Scholz die repräsentative Würde, mit der in der Regel Einzelskulpturen vorgestellt werden. Diese großen Gestalten beanspruchen einen Raum, und ihre Bewegungen bestimmen ihn. Wer sich auf diese Bewegungen einlässt und sich ihnen „auf Tuchfühlung“ nähert, erfährt die kämpferische Auseinandersetzung mit dem Holz als ein bewegendes Drama, das von Tyrannei und Unterwerfung, von Aggressivität und Zärtlichkeit handelt.